Dass sich Kritiker bei der Beurteilung von künstlerischen oder literarischen Werken oft nicht einig sind, ist im Grunde genommen eine erfreuliche Tatsache. Nichts wäre schlimmer als eine
verbindliche Richtschnur, als ein verordneter Maßstab, mit dem auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden soll, was sich ohne Verlust nicht auf einen solchen bringen lässt. Denn es
gehört zum Wesen der Kunst, dass sie mehrdeutig ist, dass sie unterschiedliche Interpretationen und damit auch unterschiedliche Wertungen zulässt.
Nicht immer freilich beruhen unterschiedliche Beurteilungen auf Eigenschaften der beurteilten Werke. Häufig haben sie ihre Ursache in (meist nicht deklarierten) Einstellungen der
Betrachter, also in Vor-Urteilen im wörtlichen Sinne. Bewertet wird nicht die Qualität eines Gegenstands, sondern seine Übereinstimmung mit den individuellen Erwartungen. Das muss nicht
unbedingt so grotesk ausfallen wie bei dem Beobachter eines Schachturniers, der dieses langweilig findet, weil nie ein Tor fällt. Aber die Angemessenheit der Erwartungen ist schon
hinterfragbar. Wenn jemand der Überzeugung ist, Mozart müsse heiter oder gefühlvoll gespielt werden, und einen Musiker schilt, der gerade das vermeiden will, dann wird er dem Interpreten
nicht gerecht.
Nach dieser langen Einleitung nun zur Sache. Arthur Millers Auferstehungsblues in der Regie von Claudia Bauer ist bei der Kritik insgesamt schlecht weggekommen. Stefan Kister,
der hier beispielhaft zitiert sei, schreibt in der Stuttgarter Zeitung unter dem Titel „An die Wand gefahren“: „Dabei gelingt es dem Schauspieler Sebastian Röhrle noch am
ehesten, aus der karikaturistischen Manövriermasse eine Figur zu formen.“ Das scheinbare Lob ist in Wahrheit ein Tadel. Denn es wirft dem restlichen Ensemble vor, keine Figuren zu formen
– ein nicht ungewöhnliches Argument. Aber Arthur Miller und erst recht Claudia Bauer wollten gar keine Figuren formen. Diese Erwartung an das Theater ist eine Folge der überhand nehmenden
Psychologisierung auf der Bühne, der seit Ibsen – und übrigens gerade auch beim jungen Arthur Miller – bevorzugten Annäherung an das „wirkliche Leben“, die ihre tristesten Ausformungen im
Fernsehspiel gefunden hat.
Tradition des politischen, allegorischen Theaters
Der Auferstehungsblues aber reiht sich ein in die Tradition eines politischen, eines allegorischen Theaters, in dem Thesen, Haltungen, Positionen verkörpert werden, nicht
komplexe psychische Systeme. Er steht, wie nebenbei auch Lars von Triers Manderlay in Volker Löschs Bearbeitung, in der Tradition von Brechts Der gute Mensch von Sezuan,
in jener Tradition, deren bestes Exemplar in der deutschen Nachkriegsdramatik Der lusitanische Popanz von Peter Weiß ist. Seine Vorbilder lassen sich noch viel weiter in der
Vergangenheit finden, in den Mysterienspielen und im Jesuitentheater. Auch von den freien Agitprop-Gruppen in den USA dürfte Arthur Miller gelernt haben.
Der Auferstehungsblues, den der neben Tennessee Williams wohl bekannteste amerikanische Dramatiker der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts 2002, drei Jahr vor seinem Tod,
geschrieben hat, spielt in einer imaginären lateinamerikanischen Militärdiktatur. Der da – tatsächlich oder vermeintlich – aufersteht: ist es Jesus Christus? Oder doch eher Che Guevara?
Oder eine Mischung aus Beiden? Wir sehen ihn nie, von ihm ist, wie von Godot, nur ständig die Rede. Vielleicht ist er, wie der Jesus der Kirche, nur eine Idee? Vielleicht muss er, wie Che
Guevara, unsichtbar bleiben, um sich vor seinen Verfolgern zu retten? Auf ihn kommt es so sehr nicht an. Wohl aber auf die Reaktionen, die er bei Anderen auslöst. Sie lässt Arthur Miller
Revue passieren – und diese Redensart darf man hier beim Wort nehmen. Kurze, wie von einem Scheinwerfer beleuchtete Ausschnitte statt einer kontinuierlichen Handlung, das filmische
Verfahren der Kontrastmontage statt jener Schritt-für-Schritt-Dramaturgie, die Arthur Miller selbst in seinen frühen Stücken pflegte.
So überraschend der Auferstehungsblues erscheinen mag, wenn man an den Tod eines Handlungsreisenden oder an Hexenjagd denkt – kann einem denn wirklich entgehen,
dass Arthur Miller auch hier (von Inge Greiffenhagen vorzüglich übersetzte) Dialoge zu schreiben verstand, wie sie kaum einem jüngeren Dramatiker, Yasmina Reza eingeschlossen, gelingen?
Von „Alterswerk“ keine Spur. Schon das auf einen skurrilen Prolog folgende Gespräch zwischen dem Diktator Felix Barriaux und seinem ausgewanderten Cousin Henri Schultz, der ihn von der
beabsichtigten öffentlichen Kreuzigung abhalten will, ist ein Meisterstück der Dialogführung in seinem Wechsel von „wisecracking“, also schlagfertigen Repliken, und Aneinandervorbeireden.
Arthur Millers Witz ist gar nicht so grobschlächtig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Der Diktator erklärt: „Tut mir leid, aber anständige Menschen treten nicht in Gewerkschaften
ein!“ Zu seinem Entsetzen ruft die Filmregisseurin, auf die er scharf ist, dazwischen: „Ich bin in einer Gewerkschaft.“ Er: „Du!“ Sie streicht ihm über die Wange: „Nimms dir nicht so zu
Herzen, Darling, es ist bloß der Verband, in dem sich die amerikanischen Regisseure zusammengeschlossen haben.“ (Im Original: „the Directors Guild of America“.)
Theatralischer Genuss erster Güte
Man muss dieses Stück nicht so ausdrücklich als Karikatur lesen, wie es in Stuttgart inszeniert wurde. Aber die Möglichkeit wird angeboten. Claudia Bauer, so viel lässt sich behaupten,
ist eine der beglückendsten Neuzugänge unter Hasko Webers Regieanwerbungen. Und sie hat, unverkennbar, eine ausgeprägte Neigung zum Grotesken. Das aber stülpt sie den Schauspielern nicht
über, sondern holt es aus ihnen heraus. Es ist nicht zu übersehen, dass sie etwa Susana Fernandes Genebras komisches Talent, das sie, wie keiner und keine vor ihr, im Sturm
sichtbar machte, im Auferstehungsblues fast zitathaft reaktiviert. Allein Fernandes Genebras Beinarbeit ist ein theatralischer Genuss erster Güte. (Warum suchen manche Leute
Derartiges nur beim Fußball?) Elisabeth Findeis in der Hosenrolle des impotenten Generals, den nicht die politische Vernunft, sondern die Geilheit menschlicher macht (wer dächte nicht an
Brechts Puntila?), bringt ins Bewusstsein, wie sträflich diese Schauspielerin, die jetzt leider aus dem Stuttgarter Ensemble ausscheidet, vernachlässigt wurde. Aber auch die übrigen
Darsteller werden von Claudia Bauer als Typen von hinreißender Komik gestaltet und fügen sich in ein stilisiertes Regiekonzept, das sich durchgängig dem Publikum zuwendet und sich ihm
frontal anbietet wie eine Plakatwand, auf der Personen und Waren um Aufmerksamkeit konkurrieren.
Schließlich: sagt uns dieses Stück etwas Neues? Wer kann das wissen? Es kommt auf den Kenntnisstand der Zuschauer an. Aber nehmen wir an, dass nur ein gut informiertes Publikum ins
Theater geht: es will dort doch nicht hören, was es ebenso gut oder besser aus der Zeitung oder einem Sachbuch erfahren könnte. Auch Othello oder Kabale und Liebe teilen
uns kaum etwas mit, was uns bislang verborgen geblieben wäre, zumal wenn wir das Stück zum siebten Mal sehen. Theater bewährt sich darin, wie es Abläufe, Sachverhalte und Zusammenhänge –
seien sie bekannt oder nicht – in eine dem Theater angemessene Form bringt. Wir kapieren, nicht erst seit heute, dass die Massenmedien gierig sind nach Sensationen, dass sie mit ihrer
Spekulation auf Schaulust manche Sauerei mitzuverantworten haben, sie gar, wie in Millers Stück, finanzieren. Wer nennt ein Theaterstück der vergangenen Jahrzehnte, welches dieses
Phänomen so drastisch und theatralisch auf die Bühne gebracht hätte wie eben der Auferstehungsblues? Und wer wollte leugnen, dass sich dafür satirische Mittel vortrefflich
eignen?
Bleibt als Resümee: der Auferstehungsblues im Depot des Schauspiels Stuttgart gehört zu den am gröbsten verkannten Höhepunkten der vergangenen Saison. Sagt der Rezensent. Bei
aller Unverbindlichkeit seines Urteils.